Oder: Über die Verschwendung von Ressourcen aller Art
Ich vertrete seit vielen Jahren ein aus Afghanistan geflüchtetes Paar und ihren kleinen Jungen. Sie stellten im Dezember 2015 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich.
Von Beginn des Verfahrens an brachte meine Mandantin unter anderem vor, in Afghanistan als Frau keine Freiheit gehabt zu haben und nicht wie ihre Mutter enden zu wollen, die Zeit ihres Lebens in Afghanistan keine eigenen Entscheidungen habe treffen können.
Die Behörde – das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – glaubte der Familie nicht, wies die Anträge auf internationalen Schutz ab und erließ gegen die Familie mit Bescheiden vom Oktober 2017 Rückkehrentscheidungen.
Infolge der gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden führte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) im Oktober 2018 und im Jänner 2021 (sic!) mündliche Verhandlungen durch, in welchen abermals durch Beweismittel gestütztes, umfassendes Vorbringen zur „westlich“ orientierten Lebensweise meiner Mandantin, aufgrund welcher sie in Afghanistan asylrelevante Verfolgung zu befürchten habe, erstattet wurde. Meine Mandantin brachte unter anderem vor, dass sie berufstätig sei, nebenbei den Pflichtschulabschluss nachhole, schwimmen, zum Tennis und ins Fitnessstudio gehe und zwischenzeitig getrennt von ihrem Partner gelebt habe, da sie in Österreich auch alleine leben könne und das genieße.
Aufgrund der überlangen Verfahrensdauer und der seit Erhebung der Beschwerde geänderten Situation in Afghanistan war eine Stellungnahme zu den aktuellen Länderberichten notwendig, zu welcher das BVwG meine Mandant:innen unter Setzung einer ungewöhnlich kurzen Frist aufforderte. In dieser Stellungnahme wies ich unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH) und gestützt auf die – vom BVwG zu beachtenden – aktuellen UNHCR-Richtlinien auf die Verfolgung meiner Mandant:innen aufgrund ihrer „westlichen“ Lebensweise und unter Hinweis auf aktuelle Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) auf den „notorischen Umstand“, dass in der aktuellen Situation in Afghanistan insbesondere vulnerable Personen, darunter Familien mit keinen Kindern, dem realen Risiko einer Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt sein können, hin.
Mit Erkenntnissen vom Februar 2021 wies das BVwG die Beschwerden meiner Mandant:innen ab. Es erkannte in der als verinnerlicht dargelegten selbstbestimmten Lebensweise meiner Mandantin nicht nur keine „westliche“ Lebensweise, sondern in Kabul eine innerstaatliche Fluchtalternative für das Paar mit kleinem Kind, obwohl UNHCR eine solche für Familien mit kleinen Kindern zu dem Zeitpunkt bereits ausgeschlossen hatte.
Gegen diese Erkenntnisse erhob ich im März 2021 Beschwerde an den VfGH. Dieser hob die angefochtenen Erkenntnisse nach Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung im Juni 2021 hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten wegen Willkür auf. Dem VfGH zufolge „hat das Bundesverwaltungsgericht das Vorliegen der innerstaatlichen Fluchtalternative Kabul für die beschwerdeführenden Parteien, einer vulnerablen Familie, sohin nicht hinreichend dargelegt. Es lässt daher eine nachvollziehbare Begründung seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten vermissen, wodurch es seine Entscheidung mit Willkür belastet (…).“ (VfGH 08.06.2021, E 974-976/2021)
Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten erhob ich Anfang September 2021 das Rechtsmittel der an den VwGH gerichteten außerordentlichen Revision.
Mit Ende September 2021 erlassenen Erkenntnissen erkannte das BVwG meinen Mandant:innen den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihnen eine damit zusammenhängende befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr.
Der Verwaltungsgerichtshof hob im März 2022 die angefochtenen Erkenntnisse auch hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten auf: „Um das Vorliegen einer asylrelevanten Verfolgung insbesondere der Zweitrevisionswerberin beurteilen zu können, hätte sich das BVwG somit, wie es die Revision zutreffend aufzeigt, auf Basis konkreter Feststellungen zur aktuellen Lebensweise der Zweitrevisionswerberin sowie Heranziehung aktueller Länderberichte damit auseinandersetzen müssen, wie es der Zweitrevisionswerberin erginge, wenn sie in ihrer Herkunftsregion den im Entscheidungszeitpunkt gelebten Lebensstil führen würde. (…) Die Annahme des BVwG, ihr tatsächlich gelebter Lebensstil verstoße nicht in solcher Weise gegen die dortigen religiösen und politischen Normen bzw. die sozialen Sitten, dass ihr deshalb Verfolgung drohen könnte, steht in einem unaufgeklärten Spannungsverhältnis zu den getroffenen Länderfeststellungen (…).“ (VwGH 10.03.2022, Ra 2021/18/0321 bis 0323)
Daraufhin geschah trotz Nachfragen in der zuständigen Gerichtsabteilung des BVwG weitere zwanzig Monate lang nichts. Wegen nachhaltiger Verletzung der (sechsmonatigen) Entscheidungspflicht betreffend die bekämpfte Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten erhob ich im November 2023 schließlich einen an den VwGH gerichteten Fristsetzungsantrag, woraufhin das BVwG meinen Mandant:innen Gelegenheit gab, binnen abermals sehr kurzer Frist eine Stellungnahme zu ihren aktuellen Lebensumständen und der aktuellen Situation in ihrem Herkunftsstaat einzubringen und entsprechende Bescheinigungsmittel vorzulegen.
Nach Einbringung dieser Stellungnahme erteilte das BVwG meinen Mandant:innen mit Erkenntnissen vom Dezember 2023 endlich den Status der Asylberechtigten – jenen Status, der ihnen aus meiner Sicht bereits vor Jahren hätte erteilt werden müssen.